Liebe Belle
In meinem Beruf ist es von zentraler Bedeutung, andere zu verstehen. Nicht nur ihre Gedankengänge nachvollziehen zu können, sondern auch zu begreifen, wer sie sind, was sie ausmacht, und ihre Wahrheit zu erfahren. Das klingt jetzt wahrscheinlich so, als ob ich mit einem einzigen Satz wahnsinnig viel Wichtiges sagen möchte. Irgendwie stimmt das ja auch.
Schauspiel ist so unglaublich tiefgründig, dass es mit Worten schwer zu beschreiben ist. Jedenfalls geht mir das so. Schon lustig, eigentlich dachte ich immer, ich sei sprachgewandt...
Andererseits fällt mir auf, dass viele Menschen Mühe haben, ihren Berufsalltag branchenfremden Freunden zu erklären – ganz unabhängig davon, welche Arbeit sie ausüben. Und haben die Freunde dann endlich kapiert, worum es geht, können sie es in zwei einfachen Sätzen wiederholen und auf den Punkt bringen.
Vermutlich gibt es also eine lächerlich einfache Beschreibung meiner Tätigkeit. Ich schlüpfe halt in eine Rolle. Punkt. Reicht ja auch.
Damit das letztendlich glaubhaft bei dir ankommt, ist es (meiner Meinung nach – ich schliesse hier immer nur von mir auf andere) wichtig, dass ein Schauspieler
a) sich selber sehr gut kennt,
b) offen ist und
c) aufmerksam beobachtet.
Zum Thema "Beobachten" möchte ich eine kleine Begebenheit erzählen, die sich heute ereignet hat.
Zwei Personen fuhren mit dem Bus. Sie gehörten klar zusammen, denn sie gingen nur knapp hintereinander zur Bushaltestelle und setzten sich nebeneinander (In einem halb leeren Bus in der Schweiz ein ganz klares Zeichen, wobei, es war sogar noch klarer, denn: Sie fuhren rückwärts!). Beachtlicher Altersunterschied, ich tippte auf Grossvater und Enkelin.
Während der Grossvater sich den Bewegungen seiner Enkelin anpasste, beachtete sie ihn überhaupt nicht. Sie starrte die ganze Fahrt über und nach dem Aussteigen, bis sie hinter der Hauswand verschwunden waren, permanent auf ihr Smartphone. Ich glaube, sie schaute sich ein Video an. Ich war absolut entsetzt. Was für ein respektloses Verhalten! Instinktiv begann ich, die Enkelin zu verurteilen, fragte mich, wann wir den Respekt vor Familie, vor dem Alter, vor echter Gesellschaft verloren haben. Und ärgerte mich einmal mehr darüber, dass wir unseren Handys einen so hohen Stellenwert einräumen.
Ab da wurde es richtig spannend. Besonders interessant ist das Beobachten nämlich, wenn die gezeigten Verhaltensweisen nicht mit den eigenen Wertvorstellungen zu vereinbaren sind. Ich fragte mich also, was ihre Beweggründe sein könnten. Wie kam es dazu, dass ihr Verhalten in dieser Situation gerechtfertigt oder vielleicht sogar die einzige Möglichkeit war? Wenn ich sie spielen müsste, warum könnte ich mich mit ihr identifizieren?
Szenario 1: Vielleicht haben sich die beiden vorher wahnsinnig zerstritten und brauchen erst mal Abstand. Unwahrscheinlich, in diesem Fall hätte sie sich vermutlich einen anderen Platz gesucht.
Szenario 2: Vielleicht muss sie ihren Grossvater begleiten, obwohl sie eigentlich ganz andere Pläne hatte – Babysitten umgekehrt. Auch unwahrscheinlich, denn es sah so aus, als ob der Grossvater ihre Tasche trägt. (Ich bediene mich hier zwar der Kunst des "Schubladendenkens", aber trotzdem, ein älterer Herr mit pinkem Turnbeutel und schwarzer Sporttasche?)
Szenario 3: Vielleicht stammt das Video von einem Freund, mit dem sie über Jahre keinen Kontakt mehr hatte – wohingegen sie mit ihrem Grossvater den ganzen Vormittag gebacken hatte. Diese Erklärung gefällt mir persönlich besonders gut. Allerdings hätte sie dann etwas glücklicher wirken müssen, oder nicht? Und wieso teilt sie ihre Emotionen nicht mit ihrem Grossvater?
Szenario 4: Vielleicht imitiert sie das Verhalten ihrer Eltern ihr gegenüber. Blöde Option, da mich dann die Beweggründe der Eltern interessieren würden.
Szenario 5: (Ich liebe Happy Ends!) Sie hat eine wichtige Tanzaufführung und ist total nervös. Der stolze Opa möchte sie unbedingt begleiten und anfeuern. Da ihre Aufregung dadurch nur noch mehr steigt, sie ihren Grossvater aber auch nicht enttäuschen möchte, hat sie zugestimmt mit der Bedingung, er muss sich auf dem Weg dorthin absolut still verhalten. Jetzt schaut sie sich die Choreo nochmals an (oder einfach etwas, um sich abzulenken).
Vielleicht stimmt eines der obigen Szenarien tatsächlich, vielleicht ist der Kontext aber auch ein ganz anderer. Ja vielleicht ist sie tatsächlich einfach nur respektlos – bewusst oder unbewusst.
Was ich damit sagen will: Wir wissen nicht, was die Beweggründe unserer Mitmenschen sind, und wir sollten uns das hin und wieder bewusst machen. Idealerweise, bevor wir uns eine fixe Meinung bilden. Trotzdem ist es spannend, sich Geschichten auszudenken. So geht ein Schauspieler vor. Er hat einen Rahmen, eine gesteckte Rolle. Die Kunst ist es, sie zu füllen, ihre Geschichten zu sehen und zu leben. Dann ist er authentisch.
Das war das Wort zum Mittwoch ;-).
Und weil ich heute nicht ganz so lustig war, hier noch ein Witz (selber im Internet recherchiert, versprochen):
Ein Informatiker wird angerufen: "Wie ist bei dir das Wetter?" "Capslock!" "Häh?" "Shift unendlich!"
Herzlich,
ani.actress
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