Hallo Sonnenschein
Castings sind so eine Sache. Einerseits gehören sie für Schauspieler*innen zum Alltag, andererseits schaffe ich es einfach nicht, mich daran zu gewöhnen. Wir sagen am Ende immer "Vielen Dank für die Einladung!", "Das hat Spass gemacht!" und "Ihr wart echt nett, es würde mich sehr freuen, mit euch zusammenzuarbeiten!" - aber stimmt das wirklich?
Jedes Casting ist eine Chance, klar. Daraus kann eine wunderbare Zusammenarbeit entstehen, es wird im Optimalfall die perfekte Besetzung für eine Rolle gefunden und die Chemie zwischen Schauspielenden und Produktion bzw. Regisseur oder auch zwischen Spielpartnern kann vor Vertragsunterzeichnung geprüft werden. Ein Casting kann zu fruchtbaren Begegnungen, lustigen Situationen und Dopaminausschüssen führen.
Andererseits sind Castings nichts anderes als harte Arbeit. Sie benötigen eine gründliche Vorbereitung und stellen eine Drucksituation dar, in der du dich beweisen musst. Stunden steckst du in deine Arbeit, um in dieser Prüfungssituation die beste Leistung abzurufen. Dann stehst du in Unterzahl auf dem Präsentierteller und redest dir ein, dass du vor einem wohlwollenden Publikum spielst. Mit dem kleinen, feinen Unterschied, dass hier niemand für sein Ticket bezahlt. Denn bezahlt wirst du erst und ausschliesslich, wenn du die Rolle erhältst – und auch dann nicht rückwirkend. Ein Casting ist immer ein Geschenk.
Im besten Fall verlässt du den Raum mit einem guten Gefühl, bist dir sicher, deiner Visitenkarte gerecht worden zu sein, und legst Hoffnung ins "Danke, du hörst von uns". Im schlimmsten Fall - und den habe ich persönlich glücklicherweise so noch nie erlebt - überlegst du innerlich, wie viel du dir anhören musst, welchen Umgang du tolerieren kannst und wie sehr dein Ruf leidet, wenn du jetzt einfach gehst. Oder deine Psyche, wenn du bleibst.
Vor Kurzem schrieb eine der in meinen Augen besten Theaterproduktionen zum Casting aus. Der Zeitpunkt war zwar nicht ideal, aber so eine Chance kommt schliesslich nicht zweimal im Leben (sagt "man" zumindest). Mein Bauchgefühl rät mir sofort ab. Einen Grund dafür kann ich nicht ausmachen. Es stimmt einfach nicht, ich habe keine Lust, mich vorzubereiten und auch keine, die Rolle zu bekommen und zu spielen?! Mein Verstand sieht das ein wenig anders. Es stimmt einfach alles, das Stück, die Produktion, die Probedauer, die Bühne. Das ist die Chance, ein formuliertes Ziel von mir zu erreichen. Vorsichtig frage ich bei meinem Vorgesetzten nach UBU für den Frühling und tauschte meinen Dienst am Castingtermin. Es funktioniert alles einwandfrei und der Kopf gewinnt. Kurz vor Bewerbungsschluss melde ich mich an – was habe ich schon zu verlieren?
Mein Lebenslauf findet Anklang und ich darf meine Stand-Up-Nummer einreichen. Auch die scheint zu gefallen, denn tatsächlich folgt kurz darauf eine Einladung zum Casting. Die Castingszene ist super! Dazu soll ein komödiantischer Monolog in Mundart vorbereitet werden. Mist, so einen gibt es in meinem Repertoire (noch) nicht. Schlau wäre es bestimmt gewesen, meine Kolleg*innen zu fragen, ob jemand den perfekten Monolog griffbereit hat, ich möchte ihn aber lieber selber finden.
Nach einigen Tagen der Suche, ich lese und schaue mich quer durch alle möglichen Theaterstücke und Texte, stosse ich auf eine Passage, die mich zum Lachen bringt. Sie ist nicht ideal und stammt von derselben Produktion – definitiv ein Risiko –, aber ich mag die Stelle gerne und mir rennt die Zeit davon. Ich versuche alle Zweifel hinter mir zu lassen und gebe alles in der Vorbereitung.
Dann kommt Tag X. Am Bahnhof wird mir eine schöne Begegnung geschenkt, die mir ein Lächeln mit auf den Weg gibt. Es ist eine Unterhaltung mit einer Frau ohne Obdach. Sie erzählt mir von Taschendieben, klärt mich über die aktuellen Preise der Notschlafstellen auf und berichtet vom Alkoholkonsum. Seit sechs Jahren ist sie mittlerweile trocken – eine unglaublich starke Frau!
Ich bin nervös und ein wenig angespannt. Ich komme direkt vom verkürzten Dienst und trage noch die Uniform. Plötzlich merke ich, dass ich den Monolog so nicht spielen kann. Natürlich habe ich gestern bereits daran gedacht, passende Kleidung einzupacken (solche Überlegungen gehören zur Castingvorbereitung dazu), entschied mich aber mit gutem Gefühl dagegen. Im Vorraum sitzen sympathische Mädels und wir unterhalten uns über Schauspielschulen und Musik.
Dann werde ich ins Büro gebeten. "Ein wunderschönes Büro!", entfährt es mir in ehrlicher Bewunderung. Zustimmendes Murmeln, das Eis ist gebrochen. In lockerer, sehr angenehmer Atmosphäre darf ich spielen. Eine Kamera zeichnet auf. Nach dem ersten Durchgang erhalte ich Feedback. Perfekt! So kann ich meine wahre Stärke zeigen: schnelles und präzises Umsetzen von Rückmeldungen. Ich soll breiter, weniger spitz spielen und aufpassen, dass ich die Szene nicht "runterhole". Damit ist gemeint, ich muss auf meine Präsenz achten. Im Theater entscheidet die Präsenz eines Schauspielenden darüber, ob die Szene als spannend oder langweilig empfunden wird. Ich brauche ganze drei Durchläufe, um genug Breite zu erreichen. Gelacht wird leider auch nicht, wobei das nicht unbedingt ausschlaggebend sein muss.
Anschliessend spielen wir zu viert eine Szene aus dem Stück. Die Rückmeldung lautet: "Passt auf, dass ihr zwischendurch nicht hängen lässt, bleibt dran." Oh oh, das gleiche Thema wie eben bei meinem Einzelcasting. Hereinspaziert, Frau Selbstzweifel. Ab jetzt brauche ich all meine Konzentration und verliere im Zuge dessen einen Teil der Spielfreude. Na bravo, es kann nicht sein, dass niemand mehr überzeugt als ich in dem Moment. Wir bedanken uns überschwänglich, beteuern nochmals, wie gut die Atmosphäre war (war sie wirklich!) und verlassen das Gebäude.
Auf dem Rückweg zum Bahnhof unterhalte ich mich mit einer Kollegin, mit der ich mich auf Anhieb gut verstehe. Wir gestehen uns ein, dass trotz aller Vorbereitung – und im Zuge der Ausbildung werden wir gut bis sehr gut auf die Gepflogenheiten unserer Branche vorbereitet – keine Absage komplett spurlos an uns vorbeigeht und dass jedes Casting irgendwo und sei es tief unten in der Erinnerung bleibt. Als gute oder weniger gute Erfahrung.
Ich weiss nicht, ob ich zu alt, zu selbstbewusst oder zu bequem für solche Situationen werde, ob mir die Leidenschaft abhandenkommt oder ob umgekehrt die Castingsituation als solche mir als gestandene Frau nicht mehr gewachsen ist. Jedenfalls werde ich vorläufig auf diese Chance verzichten und bin mir sicher, wenn das Feuer in diesem Setting spielen zu wollen, wieder unerträglich wird, wird sich ein Weg zeigen. Vermutlich weist mich dann (wie eigentlich immer) der Bauch in die richtige Richtung, nicht der Verstand.
Es ist keine grosse Überraschung, dass ich die Rolle nicht kriege. Ich bin aber gespannt zu sehen, wie die Szene letztendlich umgesetzt wird und ob jemand aus unserer Gruppe mitwirken darf.
Herzlich,
ani.actress
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