Hallo Sonnenschein
Schon lange freue ich mich auf das Teilen der folgenden Zeilen. Dies wird ein sehr persönlicher Blogartikel, von dem ich hoffe, dass er dich ebenso inspiriert, wie mich ähnliche Geschichten immer wieder inspirieren.
Vor bald fünfeinhalb Jahren verstarb mein geliebtes Omi. Ich erinnere mich an den Tag, als wäre es gestern gewesen – wobei, eigentlich sogar besser, was war gestern nochmal?
Mein Handy klingelt exakt in dem Moment, als ich den ersten Schritt aus dem öffentlichen Teil des Flughafens setze und mich zum Pausenraum begeben will. Es ist meine Schwester, die mir mit gebrochener Stimme die Nachricht vom Tod von Omi überbringt. Sie weint bitterlich. Mein Herz zieht sich zusammen und ich frage, wo unsere Eltern seien. Papi ist auf dem Weg von der Arbeit zu Opa, seinem Vater. Er hat gerade seine Mutter verloren und sein Vater hat gerade seine Frau verloren. Mami ist auf dem Weg von zuhause zu Opa, ihrem Schwiegervater, um ihm und Papi, ihrem Ehemann, beizustehen. Sie hat gerade ihre Schwiegermutter verloren.
Ich hingegen spüre Wut. Sehr grosse Wut. Meine Eltern lassen meine Schwester allein. Welche Rabeneltern lassen meine kleine (erwachsene) Schwester in dieser Situation allein? Und dann noch mit der Aufgabe, ihre Schwester (mich) zu informieren? Sie weint. Ich bin nicht in der Lage zu abstrahieren. In diesem Moment gibt es für mich keine Entschuldigung dafür. Ich frage, ob ich kommen soll. Ich wäre sofort losgefahren. Ich hätte alles liegenlassen. Ich würde für meine Schwester immer alles liegenlassen.
Sie verneint. Ihr Partner komme gleich vorbei. Sie komme zurecht. Langsam beruhigt sie sich. Als ich auflege, weint sie nicht mehr. Meine Pause ist vorbei. Ich drehe mich um und gehe zurück zum Check-In. Kurz überlege ich, ob ich nach Hause gehen soll, doch dann frage ich mich, wozu das gut sein soll. Es wäre niemand da, ich wüsste nicht, was ich da machen sollte. Also sage ich nichts und führe meine Schicht als Supervisor fort. Ich arbeite professionell und alles ist wie immer. Bloss in eine Passagierin, für die es gerade nichts Wichtigeres auf der Welt zu geben scheint, als ihr deutlich zu schweres Gepäck, kann ich mich nicht so gut hineinversetzen, wie ich es sonst könnte. Es fällt mir schwerer, freundlich, aber bestimmt zu bleiben, und die Regeln der Airline durchzusetzen, um so hinter meinem Check-In-Agent zu stehen.
Nach der Schicht bringt mich der Bus nach Hause. Ich habe nur wenige Minuten, um mich umzuziehen, dann geht's ins Eishockeystadion. Auch hier lasse ich mir nichts anmerken und leiste meinen Einsatz wie gewohnt. Mein Freund und sein Bruder sind auch vor Ort. Wie wäre es mit einem gemeinsamen Abendessen nach dem Match bei uns? Beide schauen fragend zu mir. Mein Schwager in spe ist eine von zwei, vielleicht drei, Personen, die bei mir immer unangemeldet und spontan, zu jeder Tages- oder Nachtzeit, aufkreuzen dürfen. (Für alle anderen gilt diese Regelung nur im Notfall.) Bei ihm freue ich mich immer. Er stört nie. Langsam merke ich, dass ich Zeit zum Verarbeiten bräuchte, aber wie sollte ich nein sagen? Es hätte absolut nicht zu mir gepasst und ich hätte mich mit Sicherheit erklären müssen. Also sage ich: "Klar, er kann immer kommen!" Vielleicht sage ich es ohne Ausrufezeichen.
Ich meine, wir hätten Pizza bestellt, bin mir aber nicht mehr hundertprozentig sicher. Jedenfalls schauen wir unsere Serie weiter. Wir haben praktisch immer eine Serie, die wir zu dritt schauen (momentan ist es "The Rookie" – kleine Empfehlung am Rande). Als wir mit dem Essen fertig sind, schauen wir noch eine weitere Folge. Dann schalten wir das Licht im Wohnzimmer ein und verfallen in ein Gespräch. Vermutlich dreht es sich um eine Situation in einem Eishockeyspiel. Ich schaue auf die Uhr. Ich habe mir seither nie wieder gewünscht, dass mein Schwager in spe geht. "Also, wenn du diesen Zug erwischen willst, müsstest du jetzt gehen", wage ich einen Vorstoss. "Ach, in einer halben Stunde kommt der nächste, ich kann auch den nehmen", ist die Antwort.
Der Kloss in meinem Hals wird grösser. Ich entschuldige mich und mache mich bereit fürs Bett. Schliesslich bin ich in aller Herrgottsfrühe aufgestanden. Ich werfe ein "Gute Nacht!" in den Raum und lege mich ins Bett. Stumm kullern die ersten Tränen über meine Wangen.
Endlich höre ich die Haustür ins Schloss fallen. Ich schluchze auf. Noch nie habe ich so stark geweint. Der Verlust ist unerträglich. Omi und ich waren uns sehr nah. Wir hatten viel gemeinsam: die Lieblingsfarbe Gelb, die Liebe zum Rätsellösen und zu voluminösen Daunendecken, die Art wie wir unseren rechten Fuss beim Gehen leicht nach aussen drehen. Ich liebte ihre liebevolle Art und das schelmische Blitzen in ihren Augen. Und jetzt ist sie weg. Nie mehr würden wir beisammensitzen, nie wieder würde ich eine von ihr zubereitete warme Milch aus einem Strohhalm trinken.
Mein Freund streckt den Kopf ins Schlafzimmer: "Weinst du?" Erschrocken nimmt er mich in den Arm. "Was ist passiert?" Ich antworte nicht. Ich werde von innen geschüttelt und heule auf. "Wie lange weisst du es schon?" "Seit heute früh."
Ich habe den Verlust an diesem Abend verarbeitet, aber nicht nur das. Immer wieder denke ich an Omis Todestag zurück. Im Nachhinein weiss ich, dass der Tag schwerer für mich war, als mir damals bewusst war. Gleichzeitig führt mir dieser Tag auch immer wieder vor Augen, wie stark ich bin. Wenn ich mit dieser Tragik im Herzen einen ganzen Tag lang funktionieren kann, Menschen glücklich machen und sogar helfen kann, dann kann ich alles schaffen. Wann immer ich das Gefühl habe, etwas sei zu viel für mich oder ich könne etwas nicht hinkriegen, erinnere ich mich an diesen Tag im September 2018. Dann weiss ich, dass ich stärker bin. Ich glaube, das war ein Geschenk von Omi. Ihr letztes Geschenk an mich – mir aufzuzeigen, zu was ich in der Lage bin. Auf welche innere Stärke ich vertrauen darf, dass ich sie nicht mehr brauche. Omi, du fehlst trotzdem!
Herzlich,
ani.actress
Ps. Einige Tage später besuchten wir als Familie ihren Körper ein letztes Mal. Ich berührte ihren Arm und bedankte mich in Gedanken. Tatsächlich hatte ich seit ihrem Todestag aber nie wieder das Bedürfnis, um Omi zu weinen.
Pps. Der endgültige Abschied fand an der Abdankung statt und war wunderschön. Ich weiss nicht, was der Pastor in der Feier erzählte, denn ich war nur bei Omi. Ja, sie war anwesend. Ihre Seele ist orange-gelb (wie könnte es anders sein?) und wir waren unglaublich tief verbunden. Mich durchströmten Gefühle der Dankbarkeit und des Glückes. Minutenlang sassen wir, bzw. ich sass und sie war präsent, schweigend beieinander. Wir sagten nichts und alles. Es war pur und rein. Dann ging sie. Vielleicht war das ihr allerletztes Geschenk.
Mein Freund meinte, ich hätte zu lange in die Flamme geschaut. Kann sein. Ist auch egal. Als sein Grossvater einige Jahre später verstarb und wir ihn beide sahen (er ist silbrig-blau), sagte er das nicht mehr.
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