Hallo Sonnenschein
Wann ich das erste Mal eifersüchtig war, weiss ich nicht mehr. Das letzte Mal hingegen ist mir noch sehr präsent! Bis heute bleibt das eine der grossartigsten Lektionen, die mir das Leben erteilt hat.
Meine Schwester wünschte sich schon länger Ohrlöcher. Unsere Eltern liessen uns nicht bereits als Babys piercen, sondern wollten uns die Entscheidung selbst überlassen. Ein wenig betteln musste meine Schwester trotzdem. Eine solche Veränderung sollte schliesslich gut überlegt sein. Nun ist es also so weit und wir fahren los. Zu dem Zeitpunkt bin ich wohl sieben oder acht Jahre alt. Wenn ich mich richtig erinnere, ist es ein Freitagabend.
In einem Schmuckgeschäft entscheidet sich meine Schwester für goldige Stecker und die Mitte der Ohrläppchen wird markiert. Ich sehe gebannt zu, wie die Verkäuferin mit einem pistolenähnlichen Gerät hantiert und das Schmuckstück im Nu im Ohr meiner Schwester steckt. Meine Schwester ist sehr tapfer, muss man sagen. Eine Reaktion ist kaum zu sehen. Nach der Prozedur werde ich gefragt, ob ich nicht doch auch Ohrlöcher wolle. Auf gar keinen Fall! Vehement den Kopf schüttelnd halte ich meine Hände schützend über meine Ohren und rufe immer wieder "Nein!". Da ich ein wenig befürchte, dass mich die Erwachsenen doch noch überreden/zwingen wollen, muss ich beinahe weinen. Warum sollte ich meine wunderschönen, kerngesunden Ohrläppchen mutwillig durchstechen lassen?
Wir fahren wieder heim. Meine Schwester und ich spielen noch ein bisschen im Garten als ich mich daran erinnere, dass wir morgen zu Omi und Opa fahren. Ich stelle mir vor, wie meine Schwester vom Piercingerlebnis berichten wird, wie mein geliebtes Omi stolz auf sie ist, weil sie so tapfer war und wie sehr sie die neuen Stecker bewundert. Nur schon bei der Vorstellung platze ich fast vor Eifersucht. Nicht nur, dass ich auch diese Aufmerksamkeit haben will, nein, ich gönne sie auch niemandem ausser mir! Also eröffne ich meinen Eltern, dass ich ebenfalls Ohrlöcher brauche – und zwar noch vor dem Besuch bei den Grosseltern morgen.
Meine Mutter reagiert vernünftig und erklärt mir, dass ich gerne noch ein paar Tage über die ganze Sache schlafen kann und wir dann in einer Woche nochmals hinfahren, sollte mein Wunsch so lange überdauern. Bestimmt zweifelt sie an meinem plötzlichen Sinneswandel. Ich antworte mit einem Heulkrampf. Mein Vater hingegen (er findet es schön, wenn Frauen Ohrringe tragen) nimmt mich tröstend in den Arm und verspricht mir, gleich morgen früh nochmals hinzufahren. Ich ignoriere den Blick, den ihm meine Mutter zuwirft.
Mein Vater und ich machen uns am nächsten Tag allein auf den Weg. Ich entscheide mich für silbrige Stecker, beisse auf die Zähne und verdrücke still ein paar Tränchen – das tut wirklich weh! Papi ist stolz und glücklich, ich freue mich auf den Nachmittag. Auf dem Weg zum Auto treffen wir noch die Verkäuferin von gestern und ich strahle sie an: "Sehen Sie, jetzt habe ich mich doch auch getraut und habe Ohrlöcher!" Ich glaube, sie erinnert sich nicht mehr an mich, jedenfalls geht sie nicht auf mich ein.
Später trifft die ganze Familie bei den Grosseltern ein. Meine Schwester hat keine Chance. Ich renne los, gehe als Erste durch die Tür, falle Omi um den Hals und prahle gleich nach der Begrüssung: "Schau, ich hab Ohrlöcher, die wurden gerade heute gestochen. Die Stecker bleiben jetzt eine Zeit lang drin und ich muss sie regelmässig drehen." Ihre Reaktion hätte ernüchternder nicht sein können. Sie sieht kaum hin und antwortet schlicht: "Ja ich weiss, deine Cousine hat auch Ohrlöcher." Wow! Das hat gesessen und mit einer Wucht an aufkommenden Gefühlen wird mir bewusst: Alles war umsonst. Ich habe meine gesunden, ganzen, schönen Ohrläppchen geopfert (selbst, wenn ich sie zuwachsen lasse, sind Nerven durchtrennt und das Gewebe ist zwar verheilt, aber nicht mehr unberührt) und Schmerzen in Kauf genommen für eine mögliche Zukunft, die nie eingetroffen ist.
Seit diesem Moment bin ich kein einziges Mal mehr eifersüchtig auf meine Schwester gewesen. Ich gönne ihr alles Glück dieser Welt! Nach und nach hat sich auch die Eifersucht auf fremde/bekannte Personen gelegt und seit bestimmt zehn Jahren lebe ich ganz eifersuchtsfrei. Ich habe gelernt, dass der Weg anderer meinen eigenen nicht beeinflussen muss. Natürlich empfinde ich hin und wieder Neid in dem Sinne, dass ich gerne Dinge/Positionen/Möglichkeiten hätte, die andere haben. Dies jedoch immer ohne Missgunst bzw. Eifersucht. Ich habe verstanden, dass a) ich nie wissen kann, wie es sich (für mich) anfühlen würde, etwas Bestimmtes zu haben, und was das mit sich bringt, und dass b) nur weil ich eine Vorstellung schön finde, das nicht bedeutet, dass niemand anders sie (auch) leben darf. Ist doch schön, wenn alle glücklich, getragen, gesehen, geliebt, ohne Not und mit sich im Reinen leben können – wie auch immer das für den Einzelnen aussehen mag.
Ich wünsche dir von ganzem Herzen einen unglaublich schönen Tag!
Herzlich,
ani.actress
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