Hallo Sonnenschein
Neulich belauschte ich im Zug ein Telefonat. Ein junger Mann motivierte seinen "Bro". Erst stand er dabei lässig neben der Zugtür und lehnte sich leicht zurück. Im Verlauf des Gespräches wechselte er mehrfach seine Position, was seinen Worten zusätzlich Ausdruck verlieh und zeigte, wie intensiv er am Gespräch teilnahm.
Besonders, wenn Pausen entstanden, in denen vermutlich sein Gesprächspartner sprach, zeigte seine Körperspannung, dass er mit dem Gehörten nicht einig ging. Gelegentlich versuchte er, das Spiel auf seinem Handy fortzuführen. So wirklich darauf konzentrieren konnte er sich allerdings nicht. Er bewegte mit dem Daumen lediglich die virtuelle Stadt ein wenig von links nach rechts und wieder zurück.
"Bro" hat Angst, Fehler zu machen. Der Junge versuchte auf eine einfühlsame und respektvolle Art und Weise, die mich tief beeindruckte, zu versichern, dass er ("Bro") keinen Grund habe, unsicher zu sein. Er erklärte, dass es normal sei, Fehler zu machen, er versuchen solle, sich zu entspannen und keine Panik zu verbreiten. Er habe absolut keinen Grund, an sich selbst zu zweifeln, er sei super.
Obwohl das Gespräch so oder so ähnlich wohl schon oft geführt wurde (der Junge nutzte Formulierungen wie "Das habe ich von dir schon so oft gehört und..." oder "Ich habe dir schon mehrfach gesagt, dass..."), drehte er sich unglaublich geduldig gemeinsam mit seinem "Bro" im Kreis. Jeder sollte so eine Person im Adressbuch haben, dachte ich bei mir und feierte ihn stumm.
Da nahm das Gespräch eine für mich unerwartete Wendung: "Nenn mir einen perfekten Menschen", verlangte der Junge, "es gibt keine perfekten Menschen". ... "Nein, auch Propheten sind nicht perfekt." ... "Das kann ich dir jetzt nicht erklären, ich bin im Zug. Die Leute hören eh schon zu." (Da hatte er recht, mindestens eine Person hörte ganz gespannt zu. Ist das verwerflich?) ... "Hör zu, in einer perfekten Welt würde ich gerne mit dir darüber reden. Aber wir leben in einem Land mit offener Diskriminierung auf der Strasse. Ich sehe anders aus und habe einen anderen Namen, da kann ich jetzt nicht auch noch über den Propheten reden und ich kenne leider nur diesen gut genug."
Das hat gesessen. Bei mir, meine ich. Dieser junge Mann, der keine drei Meter Luftlinie entfernt von mir steht, den ich für seine Redegewandtheit und seine unterstützende Art bewundere, erlebt offene Diskriminierung. In meinem Land, ja sogar in meiner Stadt. In seiner Stadt. In unserer Stadt. Meine positive und hoffnungsvolle Stimmung weicht einer ungläubigen Traurigkeit. Wieso tun wir das?
Am liebsten hätte ich ihm eine Umarmung geschenkt und mich bedankt. Dafür, dass er war, wie er war, und ich einen Teil davon sehen durfte. Ich hätte ihn fragen wollen, ob ich seine Nummer haben kann, ob auch er jemanden (ich mag hier auch die Wortschöpfung "jemenschen", vielleicht setzt sie sich durch und ist auch bald im Duden zu finden) hat, an den er sich wenden kann, wenn er Kummer hat. Ich hätte ihn gerne gefragt, wie sich die Diskriminierung gegen ihn oder das, womit er sich identifiziert, äussert und wie ich als eine, die nie von offener Diskriminierung betroffen war, unterstützen kann.
Stattdessen stiegen wir aus dem Zug und tauchten in die Unterführung ab, wo sich unsere Wege trennten. Er musste nach rechts, ich nach links. Das wars. Ich weiss nicht, ob ich ihn wiedersehen werde, ob ich ihn erkennen würde. Ich hoffe aber, dass er ein unendlich gutes Leben führen darf, und ich verspreche, dass ich meine Augen noch offener halten werde und mich nach bestem Wissen und Gewissen gegen Diskriminierung jeder Art einsetze. Wir sind eine Familie, wir sind ein Land, wir sind eine Menschheit. Und ich persönlich hätte gerne etwas zum Propheten gehört.
Herzlich,
ani.actress
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