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Autorenbildatalanta.pferd

Gsehsch jetzt...

Hallo Sonnenschein


Als kleines Mädchen wird Frau bereits darauf vorbereitet, was alles Schlimmes geschehen könnte, wo Gefahren lauern und wie Frau sich gegenüber Fremden, insbesondere Männern, zu verhalten hat. Besonders bewusst wurde mir das vor ein paar Wochen, als eine Gruppe Medienschaffender eine Umfrage in der Bevölkerung machte. Die Frage lautete: "Welche Vorsichtsmassnahmen treffen Sie, wenn Sie abends im Dunkeln nach Hause gehen?" Die Antworten der Frauen reichten von Schlüssel zwischen die Finger klemmen über konstant telefonieren und Umwege gehen bis hin zu: "Diese Situation versuche ich komplett zu vermeiden." Männer hingegen sagten Dinge wie: "Keine" oder "Ich hatte nie das Gefühl, dass sowas nötig wäre..."


Ausnahmen bestätigen mit Sicherheit die Regel, trotzdem ist es halt einfach so. Es ist auch einfach so, dass Frauen hin und wieder belästigt werden. Ich weiss das nicht nur aber auch von mir. Klar wurde ich bereits belästigt. Glücklicherweise nie tätlich angegriffen, aber belästigt schon mehrfach. Wenn ich nur kurz darüber nachdenke, fallen mir gleich fünf unterschiedliche unangenehme Situationen ein. Darauf möchte ich hier aber nicht genauer eingehen. Vielmehr will ich eine Begebenheit erzählen, bei der nicht so offensichtlich, sondern viel subtiler Grenzen überschritten wurden und die vielleicht genau deswegen längere Gedankengänge anregt.


Ich war auf dem Weg zum Lebensmitteleinkauf. Es war ein sonniger Morgen und ich ging, den Einkaufstrolley hinter mir herziehend, auf dem Trottoir. Da kam ein Auto von hinten angerollt und verlangsamte neben mir auf Schritttempo. Der Fahrer, er sass allein im Wagen, öffnete das Fenster und rief mir zu, ich könne mitfahren, wenn ich wolle. Ich lehnte dankend ab. Mit einem Schulterzucken fuhr er weiter. Zu diesem Zeitpunkt war die Welt für mich noch in Ordnung. Natürlich könnte die Tatsache, dass ich eine junge, gutaussehende Frau bin (ein wenig eingebildet, ich weiss, entschuldige bitte – Bescheidenheit, übrigens eine weitere Eigenschaft, welche speziell Mädchen antrainiert wird), geholfen haben, dieses kostenfreie Taxiangebot zu bekommen, das ist aber lediglich eine Vermutung. Möglicherweise hätte der hilfsbereite Fahrer jeden Fussgänger gefahren und letztendlich war es einfach eine nette Geste.


Spannend wurde es beim Eingang des Ladens. Da trafen wir uns nämlich wieder. Er war gerade dabei das Geschäft zu verlassen, ich wollte meinen Einkauf beginnen. Ich lächelte ihm freundlich zu und setzte zu einer netten Begrüssung an, doch er kam mir zuvor. Er sagte folgende Worte: "Gsehsch, jetzt wärsch doch schnäller gsi." Dann trennte uns die Drehtür. Ich war wie vor den Kopf gestossen. Allen Lesern, die meinen Aufruhr nicht verstehen, möchte ich erklären, warum diese Aussage (auch abgesehen vom leicht überheblichen Tonfall, in dem sie geäussert wurde) so unglaublich übergriffig ist.


Einerseits impliziert die Formulierung, ich hätte nicht abschätzen können, dass eine Autofahrt auf dieser Strecke schneller ist als ein Fussmarsch. Das war mir durchaus bewusst, vielen Dank. Gleichzeitig klingt es so, als wüsste der Fremde besser, was gut für mich ist, als ich selbst. Das wage ich zu bezweifeln, aber trotzdem danke für die Besorgnis. Hier frage ich mich auch, ob ein Mann dieselben Worte zu hören bekommen hätte... Andererseits lässt dieser Satz keine Möglichkeit für andere Prioritäten. "Gsehsch, jetzt wärsch doch schnäller gsi." Schnelligkeit, das einzige Ziel. Er wusste nicht, ob ich einfach nur die Sonne geniessen, auf dem Weg einen Brief bei einer Freundin einwerfen oder, wer weiss, vielleicht gerade den ersten Tag zelebrieren wollte, an dem ich nach einer Operation wieder auf beiden Beinen laufen konnte. All das wäre möglich gewesen, oder etwa nicht? Tatsache ist, er weiss nichts über meine Situation, sie geht ihn auch überhaupt nichts an und ich finde es schlichtweg nicht in Ordnung, dass er meine Entscheidung so offen despektiert. Natürlich hat er ein Recht, über meine Reaktion zu urteilen, aber habe ich nicht auch das Recht, dass er dieses für sich behält? Zudem ist es auch einfach eine Frechheit, dass er mich direkt duzt und weder eine höfliche Begrüssung noch eine Verabschiedung für angebracht hält.


Damit möchte ich die Verärgerung beenden. Schliesslich liegt es an mir zu entscheiden, wie sehr ich mich von so einem Erlebnis beeinflussen lassen möchte. Ich kenne weder den Fahrer noch die Beweggründe für seine Aussage, oder seine Gefühle, als ich sein Angebot ausschlug, aber ich hoffe, dass dieser Artikel einen kleinen Beitrag leisten kann und wir uns wieder mehr bemühen, unseren Mitmenschen mit Empathie entgegenzutreten.


Denn ganz unabhängig von Geschlecht gilt: Nein ist nein. Und "Nein" ist auch ein vollständiger Satz. Ein Nein bedarf keinerlei Begründung. Wie siehst du das? Hat meine Geschichte einen Gedanken angeregt? Meldet sich Zustimmung oder Widerspruch in dir?


Enden wir mit etwas Positivem: Es kann sein, dass aus heiterem Himmel ein Auto langsamer wird und jemand seine Hilfe anbietet. Wenn du also das nächste Mal schwer beladen zu Fuss unterwegs bist, oder eine schwierige Situation meistern musst, gib die Hoffnung nicht auf, vielleicht kommt ja jemand vorbei und hilft dir tragen.


Herzlich,

ani.actress


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