Hallo Sonnenschein
Ein Satz, den ich in einem Podcast gehört habe, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Der 30-jährige Protagonist meinte zum Thema "Altern" – und hier wird es sprachlich ein klitzekleines bisschen holprig, aber darum geht es ja nicht –: "Ich hab das Gefühl, eigentlich ist schon Halbzeit. [ ...] Okay, mein ganzes Leben jetzt noch einmal und dann denkst du dir: Was hab ich bislang so erlebt? Und plötzlich merkst du so: Eigentlich habe ich nichts in meinem Leben irgendwie bislang erlebt, was irgendwie besonders war oder so."*
Diese Aussage hat mich unheimlich traurig gemacht. Wieso empfindet er so? Natürlich kann ich nicht wissen, wie ernst er das wirklich meinte, aber selbst, wenn dies ein flüchtiger Gedanke war, woher kommt er? Ich werde nicht müde zu betonen, wie wunderbar das Leben doch ist. Jeder Tag, an dem wir Lebendigkeit spüren dürfen, ist ein besonderer Tag. Jeder Atemzug, den wir aus eigener Kraft nehmen können, ist ein Geschenk. Ein besonderer Moment.
Ich möchte dir jetzt nicht mit Gefühlsduseleien auf den Keks gehen oder dich zu goldiger Glückseligkeit zwingen – wer weiss, vielleicht machst du gerade schwierige Zeiten durch, auch die haben ihre Berechtigung. Vielleicht kannst du aber versuchen, jeden Tag etwas Positives zu sehen. Wenn es auch nur ein Moment ist, ein paar Sekunden Glück, die du wahrnimmst. Ein Lächeln, ein schmerzfreier Moment, ein Erfolg oder eine Gabel gut gewürzter Reis. Was auch immer es ist, wenn du es möchtest, kann es zu einem besonderen Moment werden.
Wir haben so viele Gründe dankbar und zufrieden zu sein und verlernen es doch immer mehr. Manchmal warten wir darauf, dass uns das Glück zufällt, dabei ist es längst da. (Ich hoffe, ich weiss das auch noch, wenn ich selbst Richtung Midlife-Crisis gehe... Sonst darfst du mich gerne erinnern!)
Statistisch gesehen habe ich bisher 28 % meines Lebens gelebt – rund (also sehr, sehr rund) ein Drittel. Ich bin somit noch ein ganzes Stück von der Halbzeit entfernt. Wenn ich mir trotzdem vorstelle, ich darf alles genau so nochmals erleben, erfüllt mich eine grosse Freude. Und dann muss ich ein wenig lachen.
Ich darf noch ein zweites Mal mit meinem Freund nach Schottland reisen. Wir werden ein zweites Mal den ganzen Vormittag in eine falsche Richtung fahren. Wir werden nochmals umdrehen müssen und der nette Mann wird auf unsere Frage: "We have to drive all the way back?!" nochmals antworten: "No! You have to enjoy the scenery... while you're driving all the way back".
Ich darf noch ein zweites Mal mitten in der Nacht aufstehen, um die zweite Seite der "Chasperli-Kassette" zu hören. Ich werde mich wieder total erschrecken, weil der Rekorder viel zu laut ist, und ein zweites Mal, wenn Mami die Tür öffnet und mich zurück ins Bett beordert.
Ich darf noch ein zweites Mal zum ersten Mal auf den Langlauf-Skiern stehen. Im leichten Trainer durch die märchenhaft verschneiten Landschaften rutschen. Überhaupt alles, was ich kann, nochmals lernen. Die Schulzeit nochmals erleben, den Lehrer, welcher nur den Hellraumprojektor benutzt, noch einmal kennenlernen. "Stiller" nochmals lesen, obwohl nicht einmal die Lehrerin das Buch ganz gelesen hatte. Noch einmal ausgeschimpft werden, weil ich ein Walkie-Talkie auf dem Schulhof benutzte, und noch einmal eine Vortragsserie nach Rom verlegen.
Und ich darf alle Emotionen nochmals durchleben. Ich bin nochmals enttäuscht, wenn ich erfahre, dass mein Opa mir doch kein Pferd zu Weihnachten schenkt. Ich werde mich nochmals blamieren, weil ich mich nicht traue, den Jungen zum Tanz aufzufordern. Ich darf nochmals ins ausgeschaltete Mikrofon singen und werde wieder die Note 4.5 erhalten. Apropos Musik, ich werde auch nochmal meinen eigenen Song bei der Vortragsübung meiner Gitarrenlehrerin spielen. Und ich werde danach wieder vom Applaus begleitet, bis ich wieder an meinem Platz sitze (bis jetzt einer der schönsten Momente überhaupt). Ach, und ich bin noch ein zweites Mal stolz, wenn ich neu im ganzen Dorf und nicht mehr nur im Quartier spielen darf, ohne extra zu fragen.
Jetzt bin ich ein klein wenig wütend auf den Typen vom Podcast, denn jetzt möchte ich wirklich mein ganzes Leben noch einmal leben. Andererseits, wie schön ist es doch, dass der Mensch wenigstens hier, im Lauf der Zeit, noch keinen Einfluss nehmen kann.
Ich wünsche dir einen wunderschönen, besonderen Tag.
Herzlich,
ani.actress
*Quelle kann auf Nachfrage bekanntgegeben werden, aber darum geht es ja auch nicht.
Das mit der Chasperli-Kassette" hat mir sehr gefallen. :-)
Mitten in der Nacht etwas machen, was eigentlich verboten ist....... schöne Erinnerung!
Sei bitte kein bisschen böse auf den Typen vom Podcast.... und traurig musst du auch nicht sein. Mir ging es mit 31 Jahren genau gleich, ich glaubte damals, dass ich nur 62 Jahre alt würde und hatte dann mit 31 konsequenterweise meine Mitten-Im-Leben-Krise. Der Typ konnte das wenigsten sagen, das ist doch schon was gutes. Ich habe es für mich behalten und immer diesen Song gehört:
Oh-oh, yes I'm the great pretender
Pretending that I'm doing well
My need is such I pretend too much
I'm lonely but no one can tell
Das war auch eine schwierige Zeit, aber…