Hallo Sonnenschein
Plötzlich überkommt es mich und ich möchte gerne eine Kerze ziehen. Viele schöne Kindheitserinnerungen entstanden in den kalten Scheunenwänden mit wachsvertropften Winterschuhen an den Füssen.
Wer sagt, dass ich als Erwachsene ohne Kinder nicht auch an dieser Tradition teilnehmen kann? Sogleich schaue ich im weltweiten Netz nach Möglichkeiten. Ich schaue bei uns, im Dorf meiner Kindheit, meines Freundes, der nächstgrösseren Stadt. Das gibt es doch nicht! Ich bin spät dran (vielleicht nicht ganz so spät wie jetzt mit diesem Artikel, aber doch zu spät zum Kerzenziehen). Es ist Anfang Dezember, ich habe gerade meinen Weihnachtsschmuck angebracht und komme langsam in Adventsstimmung.
Schnell stellt sich heraus, dass das Kerzenziehen in den Gemeinden jeweils circa eine Woche angeboten wird (in meiner Erinnerung war es fast den ganzen Monat möglich, Dochte in Wachs zu tunken) und so ungefähr um den ersten Advent herum stattfindet. Den habe ich im Übrigen auch verpasst.
Bevor ich aufgebe, überfliege ich kurz meine Termine der nächsten Woche. Einer sticht dabei besonders heraus. Für eine Hausaufgabe reise ich am Freitag an einen mir eher unbekannten Ort. Eine kurze Suche im Internet ergibt, dass das Kerzenziehen genau dort tatsächlich noch läuft. Ab 19 Uhr wird sogar Livemusik gespielt und die Veranstaltung wird zum Erwachsenentreff.
Mein Freund begleitet mich leicht widerwillig und wir steigen gemeinsam die vielen Treppenstufen bis zu den Räumlichkeiten der Gärtnerei hoch. Zwischendurch zeigt sich uns ein wunderschöner Blick über den See und die beleuchteten Städte ringsum.
In der Halle ist es wie immer. Der Boden abgeklebt, viel zu kleine Wachstöpfe, um die sich viel zu viele Kinder scharen, zwei vorbereitete "Schnitztische". Ein Docht kostet 50 Rappen und schon darf losgelegt werden. Ich stehe die meiste Zeit neben dem Bienenwachstopf, atme den wohlriechenden Duft ein und erfreue mich an der Atmosphäre.
Spätestens als ich mit einem eidgenössisch diplomierten Personenschützer ins Gespräch komme, weiss ich, dass sich der Abend lohnt. Mein Freund bleibt ein wenig skeptisch, lässt sich aber von einem Hot Dog mit Ketchup und einem Apfelpunsch in bessere Laune versetzen.
Wir ziehen unsere Kerzen fertig, geben uns Mühe bei der Verzierung und bezahlen den noch leicht warmen Wachs. Freudig wie vor zwanzig Jahren trage ich stolz meine Kerze nach Hause. Mein Freund und ich sind uns aber auch einig, dass wir nicht jedes Jahr ins Kerzenbastellager fahren müssen. Viel zu spät fallen wir ins Bett.
Traditionen sind doch etwas Schönes! Hätte ich eigene Kinder, stellte ich ganz bestimmt auch sicher, dass sie viele davon erleben und in ihren Herzen mittragen dürfen. Danke, Mami!
Herzlich,
ani.actress
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