Hallo Sonnenschein
In meinem Blogartikel "Update" vom 27. November 2022 habe ich unter anderem vom Migros Hiking Sounds berichtet. Was soll ich sagen, wir haben es wieder getan. Diesmal in einer grösseren Gruppe. Sechs Familienmitglieder brechen auf, der Hund darf für eine Nacht ins Tierheim – keine Sorge, er hat das Tierheim geliebt und wird zusätzlich von einer Kollegin energetisch fernbetreut.
Früh morgens treffen wir uns unter dem Vordach eines Industriegebäudes in der Nähe der Talstation. Es ist rappelvoll auf den Parkplätzen und die Menschen ergiessen sich nur so aus den Autos in den strömenden Regen. In unserer Gruppe mit von der Partie: Frederik, Sina, Charlène, Timo, Stefan und meine Wenigkeit. Ja, die Namen sind allesamt erfunden, Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen sind absolut vorhanden, weil beabsichtigt.
Charlène packt noch kurz den Rucksack um, Stefan zieht den Regenschutz bis oben zu und ich wappne mich innerlich für den Tag. Dann geht es los. Die Damen müssen natürlich alle pinkeln, also folgen wir dem allgemeinen Menschenstrom ein paar hundert Meter zur Station mit den Toiletten. Es ist trüb und grau, der Regen nimmt aber bereits langsam ab. Die Männer organisieren schon mal Bergbahntickets und bleiben anschliessend mehr oder minder geduldig vor dem sogenannten Startvillage stehen.
Kaum stossen wir Frauen dazu, stellen die Veranstalter fest, dass via WCs abgekürzt werden kann, und ziehen ein sympathisches Flatterband. Zurück auf null. Wir marschieren Richtung Autos zurück und versuchen abzuschätzen, wie lange die Wartezeit bei so vielen Menschen wohl dauern wird. Frederik bezieht sich auf seine Europapark-Erfahrung und schätzt 2.5 Stunden, Charlène würde es nichts ausmachen, unverrichteter Dinge wieder nach Hause zu fahren, Stefan ist angefressen, Sina in ein Gespräch mit Timo vertieft und ich amüsiere mich.
Ich liebe Situationen, die "kontrollierbar" aus dem Ruder laufen und kann mir gerade nichts Witzigeres vorstellen, als am Sonntagmorgen, bei tiefen Temperaturen und mehr oder weniger drohendem Regen im Freien in einer langen Schlange ganz hinten zu stehen. Einerseits gibt das mit Sicherheit eine gute Geschichte, andererseits ist das der Inbegriff eines Er-leb-nisses. Je schlechter die Laune bei den Umstehenden wird, desto breiter wird mein Grinsen. Warum soll man sich unter diesen Umständen auch noch gegen Sonnenschein im Herzen entscheiden? Charlène pflichtet mir bei und fragt, ob jemand einen Znüni braucht.
Es dauert keine zwei Stunden und als wir unten ankommen, wissen wir auch, weshalb wir so schnell waren. Die Eintrittskarten werden eher flüchtig kontrolliert, es gibt kein Obst und Gemüse mehr, die Getränke werden zufällig in die Sportbeutel gefüllt, welche wir im Akkord in die Hand gedrückt bekommen. Eine Teilnahme am Gewinnspiel ist nicht mehr möglich. Stefan hat sich das Ganze anders vorgestellt, Frederik dreht bereits im roten Bereich, Timo versteht die Aufregung nicht.
Wir nehmen die nächste Bahn und sind nach wenigen Minuten oben. Ein erster Stopp muss eingelegt werden, damit alle Rucksackträger ihre sieben Sachen neu organisieren und die Sportbeutel ordentlich verstauen können (selbstredend meint jeder, seine Art, dies zu tun, sei am effizientesten und daher die einzig logische). Gute 90 Minuten nach geplanter Startzeit und eine kurze Diskussion darüber, ob die Wanderung nicht entgegen der Kennzeichnung schneller wäre, später, geht es los. Im Gänsemarsch folgen wir uns völlig unbekannten Personen und begeben uns Richtung Sound Stage, wo aufstrebende Künstler*innen die Chance erhalten, vor grossem Publikum zu spielen. Die Situation gleicht einer Völkerwanderung und wir trennen uns schnell in kleinere Grüppchen (à la "Raser", "Plapperer" und "Schlusslicht").
In ganz unterschiedlichen Stimmungen treffen wir nach dem Handorgelprinzip wieder aufeinander. Der Künstler auf der Bühne kündigt gerade den letzten Song an und bittet uns, danach den Weg Richtung Main Stage einzuschlagen. Das ist der Moment, wo alle in ihre Rolle schlüpfen und sie bis zur Perfektion ausüben. Die jahrelang eingeübten Verhaltensmuster werden aktiviert. Nur diesmal mache ich nicht mit.
Meine Rolle bestand bisher immer darin, für Harmonie zu sorgen (das mag nicht unbedingt verwundern und gehört nach wie vor zu meinen Leidenschaften), indem ich mich unterwerfe und zurücknehme, besänftige, wo das grösste Eskalationspotenzial liegt (in diesem Fall bei den Herren Stefan und Frederik).
Meine Muster sind einerseits immer die Verantwortung auf mich zu nehmen und alles auf mich zu beziehen, sprich bei Disharmonie die Ursache bei mir zu suchen und zu glauben, ich sei nicht gut genug und habe nicht richtig funktioniert, denn sonst wäre es mit Sicherheit nicht so weit gekommen, und andererseits die Flucht einzuschlagen, wenn die Atmosphäre so angespannt wird, dass sie mich als Sensibelchen zu erdrücken droht. Aber ganz ehrlich, ich bin fast dreissig und schon viel zu lange mit Persönlichkeitsentwicklung befasst. Heute entscheide ich neu.
Frederik steht unter Strom und rennt direkt zum Essenszelt. Ich hinterher, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Es gibt keine veganen Würste mehr – der Supergau. Darauf hatte ich Frederik zwar schon seit der Bahnfahrt vorbereitet, dennoch ist es nur die angebotene Zwetschge, die ihn davon abhält, der armen Dame an die Gurgel zu springen.
Okay. Ich werde diesen Nachmittag jetzt so in die Wege leiten, dass er gut wird. Das grösstmögliche Glück für die Mehrheit; ist die Devise. Ich bleibe aktiv und anerkenne, dass ich vielleicht eine gute Lösung finde, so oder so aber nie die Ursache des Problems bin. Motivierter Managerhut aufgesetzt und losgelegt.
Kurze Analyse der Bedürfnisse und des Ist-Zustandes (Stärken einsetzen und nutzen, richtiger erster Schritt):
Frederik ist wegen der Musik hier. Sein Bedürfnis ist hauptsächlich das Konzert einer seiner Lieblingsbands auf der Main Stage von Anfang bis Ende zu sehen. Geduldsfaden ausgedünnt, kann es nicht ausstehen, wenn Leistungen nicht erbracht werden, die ihm seiner Meinung nach zustehen. Er isst seine Zwetschge.
Sina ist die unkomplizierteste unter den Anwesenden. Ihr Bedürfnis ist es, etwas zu erleben. Sie hat keine Nerven für grosses Drama und ist gerade dabei, sich mit Timo von der Gruppe zu entfernen.
Charlène braucht das hier alles nicht, mag uns aber. Sie nuckelt an einem mitgebrachten Riegel.
Timo ist tiefenentspannt und sein heutiges Hauptbedürfnis ist gutes Fleisch. Er lässt sich von niemandem zur Eile antreiben und holt sich gerade einen Stock, um seine Wurst übers Feuer halten zu können.
Stefan liebt die Gemeinschaft. Sein Bedürfnis ist, dass es allen gut geht, denn dann geht es auch ihm gut. Allerdings weiss er oft nicht so genau, wie er dieses Ziel erreicht. Sein Muster ist es, für andere zu denken und handeln. Darin ist er vermeintlich so gut, dass er erwartet, dass andere genauso gut für ihn denken. Eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und zu äussern, fällt ihm schwer. Er steht eingefroren da und ist unfähig, zu reagieren.
Mein Bedürfnis ist es, die Nummer emotional unbeschadet zu überstehen. Sollte mit dieser neuen Strategie funktionieren.
Ein Blick in die Zukunft:
Timo wird sich nicht bewegen, Frederik nicht am Weitergehen hindern lassen. Stefan wird hilflos zusehen. Abgesehen von Timo zerbrechen alle direkt oder indirekt an dieser Tatsache.
Eine Entscheidung muss her, denn es bleibt mir nur noch eine halbe Zwetschge Zeit. Die Gruppe muss sich aufteilen. Ich werfe den Gedanken in die Runde, damit Stefan aus seiner Versteinerung aufwachen kann und Charlène sich nicht zu häuslich einrichtet (Frederik kriegt nichts mit, schliesslich isst er gerade). Ich eile zu Sina und erkläre ihr, dass wir vier weitergehen werden, um das Konzert nicht zu verpassen, sie solle Timo Gesellschaft leisten. Sie ist einverstanden. Für Timo spielt die Unterhaltung keine Rolle, denn dass er jetzt in aller Ruhe hier essen wird, ist sowieso längst gesetzt. Er nickt wohlwollend.
Zurück bei den anderen hat sich bis auf die Zwetschge nicht viel verändert. Ich erkläre, wir gehen weiter und schiebe an Stefan gewandt nach, für Timo und Sina sei dies in Ordnung. Stefan erwacht. Frederik wirft den Stein der Frucht in die Wiese und stürmt los. Charlène (noch immer kauend) und ich hinterher. Stefan bleibt unschlüssig zurück. Ich bremse Frederik, doch als er sieht, wo Stefan noch immer steht, gibt es kein Halten mehr. Er fühlt sich nicht gesehen in seinem Wunsch, pünktlich bei der Bühne zu sein, und stapft allein davon.
Stefan steht mittlerweile mit besorgter Miene bei Sina. Charlène bemerkt, wie typisch es doch sei, dass es Stefan nicht reicht, dass Sina und ich die Situation geregelt haben. Sie kennt Stefans Muster schon lange, interpretiert sie folgendermassen: Sie glaubt, er müsse alles kontrollieren und könne nicht verstehen, dass auch die Leistung anderer genügt und keiner Nachbesserung bedarf. Mag sein, ich sehe heute aber vor allem, wie wichtig ihm das Gemeinsame und das Wohlbefinden aller ist. Er kann sich nur entspannen, wenn er die Ausstrahlung von Sina und Timo gespürt hat und ihm klar wird, dass Gemeinschaft nicht deren Hauptbedürfnis ist.
Wir drei marschieren nun auch los und ich rufe Frederik an, um ihm zu versichern, dass wir seine Bedürfnisse wahrnehmen. Er drückt mich weg. Zu verletzt und sauer. Ich bin überrascht, wie es mir gelingt, das nicht auf mich zu beziehen und als sein Problem zu sehen.
Next stop Main Stage. Das Konzert hat bereits begonnen. Frederik steht im vorderen Drittel mit guter Sicht auf die Bühne und schmollt. Vorsichtig frage ich, was für ihn den Tag retten könnte. Nichts (gut, das war klar), er wolle jetzt einfach das Konzert sehen. Schliesslich steht es ihm zu, eine gute Sicht zu haben. Für irgendetwas hat er das Ticket bezahlt – für eine imaginäre Wurst war es ganz klar nicht. Charlène lässt sich in der Nähe eines Zeltes auf den Regenjacken nieder und studiert den Inhalt ihres Sportbeutels. Stefan steht unschlüssig daneben. Auch hier klopfe ich ab, was es brauchen könnte. Charlène möchte nicht, dass die Musik zu laut ist. Stefan schweigt.
Nach kurzer Suche finde ich die Nadel im Heuhaufen: Eine freie Stelle im Gras, an der man Bühne und Band gut sieht, gross genug für sechs Personen, weit und breit kein Lautsprecher. Ich rufe Frederik an (diesmal geht er ran). Widerwillig gibt er seinen Platz auf und kommt zu mir. Ein paar Schritte weiter findet er eine Stelle, die ihm noch besser gefällt. Ein erstes Lächeln huscht über sein Gesicht und er öffnet seinen Sportbeutel (im Stehen und im Takt wippend, versteht sich). Ich eile zu Charlène und Stefan. Er hat sich mittlerweile ebenfalls hingesetzt. Geduldig erkläre ich, es gebe einen perfekten Platz für uns alle. Keine Reaktion. Frederik sei bereits da. Stefan verarbeitet die Information. Charlène möchte nicht wieder alles zusammenpacken und einen neuen Platz aufsuchen. Die Musik sei drüben sogar noch leiser als hier, gebe ich zu bedenken. Stefan steht auf und packt seine Sachen. Ich weiss, damit kommt auch Charlène, so war es schon immer. Sie bleibt aber noch einen Moment sitzen und lässt sich von mir genau erklären, wo die Stelle ist, damit sie es auch finden. Ich gehe zurück und mache mich breit. Von Weitem sehe ich, dass Stefan sich suchend umschaut. Charlène hat auch bald gepackt und führt ihn zuverlässig zu mir. Frederik steht nun hinter uns und viel später (Stefan erkundigt sich mehrmals über ihren Verbleib) stossen auch Sina und Timo zu uns. Charlène verschenkt meine Wurst an unsere Sitznachbarin, Stefan bittet um Ruhe, Frederik hüpft und Timo schläft, den Kopf auf Sinas Knieen. Der ganz normale Wahnsinn. Ich klopfe mir auf die Schultern, da mich das alles nicht aufwühlt.
Beim anschliessenden Abendessen im nahegelegenen Restaurant droht die Stimmung nochmals kurz zu kippen (wir sind einfach ein sehr verschiedener Haufen), doch ich bin mittlerweile ziemlich müde. Also sage ich direkt, dass ich diesen Tonfall nicht brauche und sonst gehen würde. Funktioniert erstaunlicherweise total gut.
Auf der Rückreise teile ich meine Beobachtungen mit meinem Freund. Er lacht sich schlapp. Das gibt mir die nötige Energie, den Tag hervorragend abzuschliessen. Die Migros entschuldigt sich am nächsten Morgen für die Unannehmlichkeiten und lädt uns zu einer weiteren Wanderung ein. Stefan und ich gehen hin.
Herzlich,
ani.actress
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