Hallo Sonnenschein
Am Sonntag steht ein besonderer Programmpunkt bevor: Ich unterstütze eine Freundin und sehe mir ihre Tanzaufführung an. Sie findet im Rahmen eines sogenannten "Tryouts" statt. Bei dieser Veranstaltung können Künstler*Innen junge Ideen, neue Performances vor Publikum austesten und von einem Feedback von Fachpersonen profitieren. Das Pendant einer offenen Bühne im Theater.
Ich habe Mireille noch nie tanzen sehen und bin sehr gespannt. Das wird bestimmt ein schöner Abend, getragen von Musik und ich weiss nicht, vielleicht Street Dance, Hip Hop, Jazz, Contemporary oder gar Ballett? Weit gefehlt! Kaum sitze ich bequem in der dritten Reihe von oben, bereit verzaubert zu werden, da geht es auch schon los. Psychedelische Musik ertönt aus den Lautsprechern und eine junge Frau, nur mit Jogginghose und einem hautfarbenen Bandeau-Top bekleidet, windet sich am Boden. In langsamen, wie ich finde wenig aussagekräftigen Bewegungen, arbeitet sie sich während gefühlt fünfzehn Minuten in eine gebückte Haltung und schliesslich in den Stand vor. Verstehe ich nicht.
Endlich ist die Nummer durch. Die nächste Performerin zeigt sich noch freizügiger (im Schlüpfer mit Penisattrappe, Stöckelschuhen und einem Mantel, dessen sie sich schnell entledigt). Kuriose Bewegungen und wenig Struktur, dazu furchtbare Musik mit noch schlimmerem "Gesang". Dazwischen ein Monolog, in dem sich die Künstlerin über die Stellung der Frau in unserer Gesellschaft (und weiteren mehr oder weniger gekoppelten Missständen) beschwert, den Text vergisst und aus Verlegenheit zu lachen beginnt.
Dann kommt Mireille. Ich erkenne sie sofort. Im Black bringt sie einen Stuhl in Position und beginnt dann zu kommunizieren. Ihr Körper spricht, ihr Ausdruck spricht und wenn sie nicht spricht, spricht die Stille. Die Performance ist kurz, mit Abstand die beste des Abends und bringt die Message (sie wurde leider auch schon im Chaos der vorherigen Darbietung genannt – schade, dass die Reihenfolge der Auftritte nicht besser organisiert war) auf den Punkt. Ich sehe trotzdem noch mehr Potenzial für Intensität und Gefühl bei Mireille.
Die letzten beiden Performances lasse ich dösend über mich ergehen. Sie sind zwar besser als die ersten beiden, trotzdem kann ich mit dieser Art von Kunst leider nicht viel anfangen. Ich hoffe, ich bin die einzige im Publikum, der es so geht, und niemand fühlt sich persönlich angegriffen von meiner geistigen Abwesenheit.
Nach der Aufführung spazieren Mireille und ich noch durch die Stadt, finden ein gemütliches Lokal und trinken eine Schoggi Mélange (ist es peinlich, dass wir beide nicht wussten, was man unter diesem Begriff versteht?). Wir sprechen über dies und das und über James Bond(s). Ich verstehe mich wirklich gut mit Mireille, obwohl wir uns erst seit wenigen Monaten kennen. Wir können locker, offen und so ungezwungen miteinander reden, dass ich mich schon heute auf unser nächstes Treffen freue. Und vielleicht sehe ich dann mehr von ihren Tanzkünsten. Von IHREN Tanzkünsten. Von ihren TANZkünsten.
Herzlich,
ani.actress
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