Hallo Sonnenschein
Ich bin (mit grosser Wahrscheinlichkeit) eine HSP, eine "Highliy Sensitive Person". HSPs sind Menschen, die besonders sensibel für sensorische und mentale Eindrücke sind. Ungefähr 15-20% der Gesellschaft hat diesen Charakterzug*.
Im Positiven bedeutet die Hochsensibilität, dass ich sehr feinfühlig bin, Stimmungen schnell spüre, gewisse Reize stärker wahrnehme und mein Körper ein ausgeprägtes Frühwarnsystem betreibt. Ich kann mich fast immer auf meine Intuition verlassen und es fällt mir leicht, mich in andere hineinzuversetzen und angemessen zu kommunizieren. HSPs sind ausserdem typischerweise überdurchschnittlich gewissenhaft (und gestehen sich selbst nur schwer Fehler ein).
Die starke Wahrnehmung von Reizen führt aber auch schneller zu einer Reizüberflutung. Das zeigt sich dann in einer Überforderung, einem Gefühl des übermannt-Werdens und einem erhöhten Stresslevel. In einer reizintensiven Umgebung (Menschenansammlungen, Pendlerverkehr, Grossraumbüro, Konzert, Buffet im Hotel etc.) versuchen wir uns zu schützen (die erste Reaktion geschieht meist nach der bevorzugten Kampf-oder-Flucht-Reaktion: flüchten, erstarren oder angreifen) und sind dann alles andere als einfühlsam, sondern eher ignorant und egoistisch.
Ich erinnere mich an eine Situation im Lager, als zwei Mitleitende aus unterschiedlichen Gründen traurig und frustriert waren und obendrein noch ein Streit zwischen den beiden vom Zaun brach. In diesem Moment wollten wir zur Entspannung der Lage und der Planung des weiteren Abendprogrammes eine Sitzung im Leiterzimmer abhalten. Ich sass zwischen den beiden, die Luft im engen Zimmer war dick, die Atmosphäre richtiggehend erdrückend. Von links und rechts kamen negative Schwingungen bei mir an und ich begann die Gefühle immer mehr zu übernehmen, im wahrsten Sinne des Wortes mitzufühlen. Bereits nach wenigen Augenblicken musste ich den Raum fluchtartig verlassen. Ich setzte mich an den Fluss und beobachtete meine körperlichen Reaktionen. Binnen Sekunden war meine bis dahin positive Stimmung verflogen, ich spürte eine Enge in der Brust, einen erhöhten Herzschlag und einen Kloss im Hals.
Im Alltag bedeutet meine Hochsensibilität hauptsächlich gute Vorbereitung. Muss ich beispielsweise an einen neuen Ort, sehe ich mir den Weg anhand von Satellitenbildern oder Street View vorher an, damit zumindest die visuellen Reize nicht alle neu sind und somit in der Situation selbst schneller verarbeitet werden können. Wichtige Gespräche übe ich im Kopf und Treffen mit mehreren Personen nehme ich ungern spontan auf mich, weil dann nicht genügend Zeit für die mentale Vorbereitung bleibt. Sie bedeutet aber auch, dass ich mit Menschen oder auch Tieren, die von anderen als "schwierig" betitelt werden, gut klarkomme. Ich spüre sie eher und kann auf sie eingehen.
Einmal, als ich im Tierheim aushalf, freundete ich mich mit einem ganz speziellen Hund an. Er legte sich auf meinen Schoss, leckte mir die Nase und hielt mich länger als geplant von der Arbeit ab. Später erfuhr ich, dass der Hund im Tierheim war, weil er beisst. Noch am selben Nachmittag wurde er beim Spaziergang scheinbar aggressiv.
Ich persönlich reagiere stark auf Atmosphären und Stimmungen. Sofort spiegle ich eine Emotion und übernehme die Gefühle, die mir gezeigt werden (du kennst das bestimmt von Bildern mit gähnenden Menschen, die uns ebenfalls zum Gähnen anregen). Deshalb schaue ich mir weder Thriller noch Horrorfilme und auch Nachrichten nur in sehr geringen Dosen an, weil ich sofort mitschwinge. Ganz schlimm finde ich auch Zeichentrickfilme. Bei den gezeichneten Figuren sind die Emotionen in den Gesichtern oft stark überzeichnet, was bei mir zu entsprechend starkem Mitfühlen führt. Auch Texte, beispielsweise in Büchern, aktivieren meine Gefühlswelt, allerdings kreiere ich hier die Bilder selbst, was das Ganze ein wenig kontrollierbarer macht.
Ich mag diesen Wesenszug von mir sehr. Er erlaubt mir die Welt unglaublich bunt zu sehen und mit allen Sinnen intensiv zu erfahren. Lieber weine ich als einzige auf einem Kindergeburtstag (wir sahen uns "Lilo & Stitch" an), bitte Mami darum, mich suspendieren zu lassen (im Religionsunterricht wurde "The Da Vinci Code" gezeigt – bis heute weiss ich nicht, wie der Film ausgeht) oder erkläre meinem Freund, dass es für mich kaum auszuhalten ist, wenn er ein Video schaut, während das Radio läuft, als dass ich einen dieser magischen Momente verpasse, indem ein kaum wahrnehmbares Lächeln, ein Blick, eine berührende Geschichte, eine leise Melodie oder grasgrünes Gras mein Herz erstrahlen lassen und ich ein so intensives Glücksgefühl verspüre, dass ich die ganze Welt umarmen könnte.
Herzlich,
ani.actress
*Diese Zahl habe ich von zartbesaitet.net, wo noch viele weitere Infos zusammengetragen sind, falls du dich genauer mit dem Thema beschäftigen möchtest, oder bei dir selbst eine Hochsensibilität vermutest.
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